Urban Mining, das Konzept der Rückgewinnung von Rohstoffen aus bestehenden städtischen Strukturen, gilt als ein zentraler Aspekt der Kreislaufwirtschaft. Brüssel hat das Konzept bereits aktiv in seine Stadtentwicklungsstrategie integriert und mit den beiden Projekten Multi Tower und ZIN in No(o)rd wertvolle Erfahrungen gesammelt. In einer Zeit, in der Ressourcenknappheit und Umweltbelastung zunehmend in den Fokus rücken, bietet Urban Mining eine vielversprechende Lösung, um Materialien nachhaltig zu nutzen und Abfall zu reduzieren. In den 2000er Jahren begannen erste Initiativen, die sich mit der Wiederverwendung von Materialien aus Abbrucharbeiten beschäftigten. Die EU-Richtlinie zur Abfallwirtschaft und das Abfallrahmengesetz von 2008 legten den Grundstein für eine systematische Betrachtung des Urban Mining.
Mit der zunehmenden Urbanisierung und dem damit verbundenen Druck auf Ressourcen hat das Konzept an Bedeutung gewonnen. Städte wie Amsterdam, London, Kopenhagen und auch Brüssel haben begonnen, Urban Mining aktiv in ihre Stadtentwicklungsstrategien zu integrieren. Die EU unterstützt diese Entwicklungen durch zahlreiche Programme und Richtlinien, die auf eine nachhaltige Ressourcennutzung abzielen. So setzen etwa der 2015 aufgelegte Circular Economy Action Plan sowie dessen aktualisierte Fassung von 2020 klare Ziele für die Abfallwirtschaft und Ressourcennutzung in den Mitgliedsstaaten. Zusätzlich wurde der European Green Deal ins Leben gerufen, der darauf abzielt, Europa bis 2050 klimaneutral zu machen. Urban Mining wird als Teil dieser Strategie betrachtet, da es dazu beiträgt, die Abhängigkeit von primären Rohstoffen zu verringern und die Umweltbelastung zu minimieren.
Urban Mining vor Abriss
Brüssel verfolgt im Rahmen von Urban Mining ehrgeizige Pläne zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und zur nachhaltigen Stadtentwicklung. So wird etwa bei öffentlichen Bauprojekten zunehmend Wert auf nachhaltige Praktiken gelegt, einschließlich der Integration von Urban Mining-Methoden in die Ausschreibungen. Darüber hinaus werden Initiativen zur Aufklärung von Bauherren und Architekten über die Vorteile von Urban Mining gefördert. Seit 2019 hat die Region Brüssel Strategien für die Circular Economy verabschiedet, die den Abriss von Gebäuden in der Region nur noch dann erlauben, wenn ein guter Urban Mining-Plan vorliegt.
Multi Tower leistet Pionierarbeit
Aktuell gleicht die Innenstadt von Brüssel einer Baustelle. Zahlreiche Kräne sowie historische Fassadenhüllen, von denen nur noch die Front durch massive Stahlstützen in der Vertikalen gehalten werden, fallen beim Besuch des Stadtzentrums ins Auge. Daneben ragt mit dem Multi-Tower eines der ersten Urban Mining Projekte in der Belgischen Metropole auf, das 2016 an den Start ging. Zum Planungsbeginn steckte das nachhaltige Konzept zur Rückgewinnung und Wiederverwertung von Materialien aus bestehen Gebäuden noch in den Kinderschuhen. Conix RDBM Architects ließen sich davon jedoch nicht entmutigen und legten einen Sanierungsentwurf vor, der zunächst zahlreiche Details offenlassen musste. Zum einen, weil Bestandsdaten fehlten, zum anderen, weil Materialdatenbanken und C2C-Zertifikate für neu eingesetzte Baustoffe schlichtweg noch nicht etabliert waren.
Insgesamt wurden 89 Prozent des vorhandenen Betons wiederverwendet, wodurch 3.259 t gebundener Kohlenstoff, 20.000 t Abfall, 2.222 Zementlaster und 2.000 Zementlasterfahrten eingespart wurden, wie die Architekten berichten. Das Gebäude weist nach Angaben der Planer den höchsten Prozentsatz an wiederverwendeten Materialien unter den großen Büroprojekten in Brüssel auf, wobei 3 Prozent durch Urban Mining an ausgewählten belgischen Standorten in Zusammenarbeit mit dem Kreislaufwirtschaftspartner Rotor DC gewonnen wurden.
Der Multi Tower, entwickelt von Immobel und Whitewood, bietet nach seiner Renovierung auf 18 Stockwerken über 44.000 m² Bürofläche für 2.000 Beschäftigte sowie Einzelhandelsflächen im Erdgeschoss. Es gilt als erstes CO2-neutrales Bürogebäude der Stadt.
Cradle to Cradle im Fokus: ZIN in No(o)rd
Deutlich komplexer erweist sich die Revitalisierung des Projekts „ZIN in No(o)rd“ im Central Business District von Brüssel. Es umfasst die Renovierung der beiden Bürotürme des ehemaligen Brüsseler World Trade Center (WTC), die 1972 und 1976 erbaut wurden. Der mächtige Komplex war Teil des in den 1970er Jahren initiierten Manhattan-Plans für die Stadt, im Zuge dessen zahlreiche Bürohochhäuser entlang einer städtebaulichen Achse entstanden sind. Komplizierte Grundstücksverhältnisse und veränderte Anforderungen wie etwa Gebäude- oder Raumhöhen und mangelnde Energieeffizienz erschweren jedoch deren weitere Nutzung zunehmend oder machen sie schlicht verzichtbar. Was bleibt ist ein enormer Anteil grauer Energie.
Die flämische Regierung schließlich, die heute auch einen Teil des ZIN nutzt, definierte klare Ziele zur nachhaltigen Entwicklung des unrentablen WTC-Komplexes. Heute ist das Projekt, das von der belgischen Immobiliengesellschaft Befimmo vorangetrieben wurde, mit einer Fläche von über 110.000 m² eines der größten Urban-Mining-Projekte in Europa. Die drei Büros 51N4E, l’AUC und Jaspers-Eyers haben ein umfassendes Konzept für die Nachnutzung der beiden WTC-Türme erarbeitet. Nach dem Teil-Abriss – nur die Erschließungskerne blieben erhalten – wurden die beiden wiedererrichteten Türme durch einen neuen Abschnitt mit 14 doppelgeschossigen Stockwerken verbunden. Dies bildete die Grundlage für die Entwicklung eines Hybridgebäudes; das ZIN bietet künftig auf 110.000 m² Büros, Co-Working Spaces, Wohnungen und Hotelbereiche sowie neue Grünräume. Das offen gestaltete Erdgeschoss mit dem hinzu addierten mehrgeschossigen Gewächshaus verändert zudem die Beziehung zur Stadt und zum öffentlichen Raum im Sinne der Quartiersumwandlung.
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